Gesundes Arbeitsklima
Neues Deutschland 13.10.2012 / Ulrike Henning
Ein Altbau in Berlin-Kreuzberg, Reichenberger Straße. Der Treppenaufgang in den zweiten Stock ist mit Graffiti übersät, an den Fensterscheiben diverse politische Aufkleber: für Tierrechte, gegen Nazis in Dortmund. Im Empfangsbereich der Praxis ein Plakat zu einem Film über Tupamaros, eine Stadtguerilla in Uruguay, hoch oben zwischen zwei Fenstern fordert ein rot-weißes Poster: »No war!« Die große Pinnwand im Flur informiert über diverse Hilfsangebote im sozialen und medizinischen Bereich, ein Mitarbeiter der Praxis sucht ein WG-Zimmer. Der helle, freundliche Warteraum ist zur Sprechzeit halb gefüllt, ein Aquarium steht auf einem Regal, ein grüner Kachelofen in der Zimmerecke. Weiter auf die Neues Deutschland Seite.
Besuch in einer der sehr wenigen Kollektivpraxen der Bundesrepublik, von denen es in den 1980er Jahren mindestens 20 gab. 1992 waren es noch vier. Das Alleinstellungsmerkmal: gleicher Lohn für alle. Einen einheitlichen Stundenlohn erhalten Arzthelferinnen, Ärzte und Ärztinnen, egal ob einer die Buchhaltung macht oder eine im Labor arbeitet, und sogar die Putzkräfte. Insgesamt besteht die Besatzung derzeit aus elf Personen, darunter fünf Ärzte, zwei davon in Weiterbildung. Gerade wurde der Stundenlohn - nach Jahren ohne Lohnzuwachs - um einen Euro erhöht.
Transparente und pharmafreie Praxis
Türkan Bali ist eine von denen, die als medizinische Fachangestellte, schon allein was den Lohn betrifft, von der Praxis-Konstruktion profitiert. Die 47-Jährige ist seit 1998 dabei, vorher arbeitete sie schon einmal einige Jahre in der Reichenberger Praxis und wurde von dem damaligen Kollektiv auch gefördert: »Ich sei jung, sollte mich ausbilden lassen.« Dann machte sie das Abitur nach und begann eine Heilpraktiker-Ausbildung, was ihr anfangs von der Praxis finanziert wurde. Auch heute haben alle, die nicht Ärzte sind, mindestens eine zweite Ausbildung, häufig im Feld alternativer oder ergänzender Therapien - allerdings werden ihre angebotenen Leistungen, wie etwa Shiatsu-Massagen oder das Schröpfen mit Blutegeln, nicht von der Krankenkasse übernommen. Patienten fragen nicht häufig danach, vor allem, weil sie es sich nicht leisten können. Dennoch kann Türkan mit ihrer Ausbildung im Hintergrund mitunter nützliche Hinweise geben, etwa für einen Tee oder ein Hausmittel - was sie den Ärzten auch kommuniziert. Sie wird dafür nicht schief angesehen, an ihre »eigentlichen« Aufgaben erinnert oder gar gekündigt.
Weit mehr als anderswo wird hier die Verantwortung gemeinsam getragen: das Eigentum der Praxis, die Entscheidungen über Investitionen oder Öffnungszeiten und den Dienstplan. Einen Chef gibt es nicht und keine Hierarchie, dafür wöchentlich ein Plenum: Zweieinhalb Stunden lang wird diskutiert - ob der Fußbodenbelag zu erneuern ist oder nicht, was mit Patienten passiert, die ihre Versicherungskarte nicht dabei haben. Welche Zeitschriften für das Wartezimmer bestellt werden. Ob ein Plakat aufgehängt werden darf oder nicht. Letzteren Fall erklärt Türkan Bali so: »Nicht jedes politisch aufrüttelnde, vielleicht auch etwas krasse Plakat kann ich kranken Menschen zumuten.«
Für Türkan beinhaltet das Kollektivmodell auch die Erziehung der Ärzte. Denen soll, im Gegensatz zum üblichen Vorgehen im Gesundheitswesen, nicht alles hinterhergetragen werden. »Einen gebrauchten Verband können sie auch selbst in den Mülleimer werfen, der direkt neben ihnen steht.« Andere Dinge haben sich in der Praxis schon lange eingebürgert: Niemand läuft mit einem weißen Kittel oder in einer anderen Mediziner-Uniform herum. Die Ärzte holen ihre Patienten selbst im Wartezimmer ab, sitzen mit ihnen an runden Tischen im Sprechzimmer. Die Ärzte behalten ihr Fachwissen nicht für sich, Transparenz gegenüber den Patienten und deren Mitbestimmung bei Entscheidungen über diagnostisches Vorgehen und Therapie sind Programm. Die Praxis empfängt außerdem keine Vertreter der Pharmaindustrie und - auch das eine Seltenheit - ist komplett werbefrei. Kugelschreiber und Notizzettel, mit denen Pharmafirmen die Praxen überfluten, werden hier nicht genutzt.
Die Ärztin Sabine Will ist ebenfalls seit 1998 dabei, nachdem sie 1995 ein halbes Jahr als Vertretung in der »Reichenberger« gearbeitet hatte. Die 48-Jährige beschäftigte sich schon während ihres Studiums in einem Arbeitskreis mit Kollektiv- und Gruppenpraxen. Seit drei Jahren arbeitet sie weniger als Allgemeinmedizinerin und mehr als Psychotherapeutin mit den Patienten. Ihre Einstellung zum ärztlichen Beruf hat sich mit den Jahren nur in einem Punkt geändert: »Es ist notwendig, die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten zu erkennen.«
Die Praxis will eine Medizin anbieten, die den Menschen als Ganzes sieht. Nicht nur den Schmerz im Brustkorb oder die Schlafstörung abfragen, die technische Diagnostik anfordern und ein Rezept ausfüllen. Es geht ums Zuhören, Zeit haben. Termine dauern regulär 15 Minuten - und sie können sich auch bis zu einer halben Stunde ausdehnen (der Durchschnitt liegt laut Studien gesetzlicher Krankenkassen bei 7,8 Minuten pro Patient). Manchmal wird es deshalb zwar eng im Warteraum, aber Türkan Bali sagt dann zu ungeduldigen Patienten: »Vielleicht brauchen Sie auch mal eine halbe Stunde Zeit.«
Flüchtlinge werden kostenlos behandelt
Im vergangenen Quartal wurden etwa 1600 Patienten behandelt. Gebrechliche und stark gehbehinderte Menschen sind nur wenige darunter, weil die Praxis nur über einige Treppen erreichbar ist und keinen Fahrstuhl hat. Ansonsten kommt ein guter Querschnitt von Diagnosen vor: Erkältungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Rückenbeschwerden, psychische Leiden. Es gibt Krebs- und HIV-Patienten. Der finanzielle Ertrag steht nicht im Vordergrund, so Sabine Will: »Wir werden zwar nicht reich, aber wir nagen auch nicht am Hungertuch.« Zu den Patienten, die regulär wie überall in Deutschland mit ihrer Versicherungskarte kommen und abgerechnet werden können, sind jedoch noch einige hinzuzurechnen. Flüchtlinge, Menschen ohne geregelten Aufenthalt, mitten im Asylverfahren, Illegale, Nicht-Versicherte. Diese werden kostenlos behandelt, manche erlangen später einen Versicherungsschutz.
Sabine Will nennt ein Beispiel: »Eine ältere Frau aus der ehemaligen Sowjetunion war heute bei uns, sie hat Parkinson und katastrophale Zuckerwerte. Sie müsste mindestens zu einem Internisten, wenn nicht sogar ins Krankenhaus. Aber von heute auf morgen wird sie im Rahmen ihres Asylverfahrens ins Land Brandenburg verlegt, dort erhält sie nach Auskunft eines Sozialarbeiters in den ersten zwei Monaten gar keine medizinische Betreuung, geschweige denn das nötige und teure Insulin. Ihre Verwandten, die ihr helfen könnten, leben aber in Berlin.« Hier klemmen sich die Ärztinnen ans Telefon und versuchen, eine Regelung für ihre Patientin zu erreichen. Bezahlen wird das niemand, aber es gehört zum Selbstverständnis des Kollektivs, sich in solchen Fällen zu engagieren. Türkan Bali dazu: »Wir stehen auf der Seite der Menschen, die in einer schwierigen Lage sind. Wir sind immer bereit, sie zu behandeln.«
Aus ihrer Sicht muss es viele solcher Praxen geben. Für die, die sich mit wenig Geld durchschlagen müssen und etwa von Hartz IV leben. Oder für Flüchtlinge und Roma, für Nicht-Versicherte.
Auch »schwierige Patienten« können hier offen über ihre Probleme reden und werden angenommen, seien sie Alkoholiker oder in einer Lebenskrise. Für alle eigentlich, die ihren Behandlern auf Augenhöhe begegnen wollen. In die Reiche-Praxis kommen nur wenige Privatpatienten, sie werden hier nicht bevorzugt, bekommen nicht früher Termine als alle anderen.
Ein selbstbestimmtes, schönes Arbeiten
Mittags treffen Früh- und Spätschicht zur Übergabe und zum Essen zusammen. Jedes Mal kocht ein anderer, der Job rotiert. Salat, Hauptgang und Nachtisch seien Pflicht, »und ein Espresso danach«, freut sich Sabine Will. Kochmuffel haben keine Chance im Team. Die gemeinsame Essenszeit bezahlen sie sich selbst, ebenso die Plena, Weiterbildungen oder Kindergeld. Unter diesem Aspekt ist der Stundenlohn sogar ein wenig höher.
Sind sie das letzte gallische Dorf, das dem kommerzialisierten Gesundheitswesen die Stirn bietet? So negativ würde es Sabine Will nicht formulieren. »Wir haben uns einen eigenen Binnenraum entwickelt, wir haben schöne und selbstbestimmte Arbeitsbedingungen. Studenten fragen nach Praktika bei uns, Ärztinnen in Weiterbildung wollen nach Studienabschluss zurück zu uns, arbeiten hier begeistert mit. So allein fühlen wir uns nicht.«